So Gott will und wir leben …

Ereignisse, Verlautbarungen, Prognosen, Anordnungen usw. scheinen derzeit nur ein sehr kurzes „Haltbarkeitsdatum“ zu haben. Was heute noch galt, kann morgen schon überholt sein. Keiner kann wissen, wie lange wir noch mit den persönlichen Einschränkungen leben müssen, da es bisher keine Prognosen darüber gibt, wie lange diese jetzige Krise durch den Virus andauert. Unsicherheit hat viele Menschen ergriffen. Viele hatten ihre Urlaubstage für dieses Jahr schon geplant, Reisen gebucht und evtl. angezahlt u. u. u. Was daraus wird, weiß keiner. Planungssicherheit scheint zurzeit zu einem Fremdwort geworden zu sein.

Mich begleiten in diesen Tagen Verse aus dem Jakobusbrief, Kapitel vier (13 – 15): „…Nun zu euch, die ihr sagt: »Heute oder spätestens morgen werden wir in die oder die Stadt reisen! Wir werden ein Jahr lang dort bleiben, werden Geschäfte machen und werden viel Geld verdienen!« Dabei wisst ihr nicht einmal, was morgen sein wird! Was ist schon euer Leben? Ein Dampfwölkchen seid ihr, das für eine kleine Weile zu sehen ist und dann wieder verschwindet. Statt solche selbstsicheren Behauptungen aufzustellen, solltet ihr lieber sagen: „Wenn der Herr es will, werden wir dann noch am Leben sein und dieses oder jenes tun, wenn der Herr will, werden wir leben und dies oder das tun.“

Dass mein Leben täglich ein Geschenk ist, war und ist mir im Kopf schon immer gegenwärtig. Allerdings nur theoretisch, wie ich mir jetzt eingestehen muss. Mein Kirchlicher Amtskalender für 2020 enthält auch die Jahre 2021 und 2022. Auch für  diese Jahre habe ich schon Termine eingetragen und zugesagt, ohne die oben zitierten Worte der Bibel dabei wirklich ernst zu nehmen, denn ich habe hinter viele Termineintragungen statt eines Fragezeichens ein Ausrufezeichen gesetzt. Diese Bibelworte gestatten mir allerdings nur ein Fragezeichen.
Zurzeit erleben wir nun sehr eindrücklich den „Praxistest“ dieser weisen biblischen Worte. Sie „erden“ mich. Ich erkenne, was im Kopf logisch verankert ist, muss deshalb noch lange nicht im Lebensvollzug verinnerlicht worden sein. Diese „Lerneinheit“ können wir in diesen Tagen nicht umgehen.

Vor einigen Tagen stornierten meine leiblichen Geschwister und ich ein lang geplantes gemeinsames Geschwistertreffen, da wir nicht mehr in das Land reisen dürfen, in dem wir unsere gemeinsame Begegnung im April gebucht hatten. Plötzlich bekommen diese Bibelworte für mich einen ganz anderen Klang, ein anderes Gewicht.
„So Gott will und wir morgen noch leben“, ein Slogan, den viele gläubige Menschen ab und zu von sich geben und den ich vor allem von etlichen Christen aus meinen jüngeren Jahren kenne. Vermutlich wurde und wird er bis heute des Öfteren wie eine Floskel gebraucht: fromm gesagt, aber womöglich nicht ganz ernst genommen. In diesen Tagen lerne ich, diese Worte bewusster zu denken und zu sprechen.

Nein, wir sind nicht die „Macher“, die alles im Griff haben. Keiner von uns kann sein Leben auch nur um einen Tag verlängern, so sagt Jesus (Matthäus 6,27). Wir haben uns das Leben nicht selbst gegeben. Wir haben es aus der Hand Gottes empfangen. Als Geschenk. Unser Leben ist und bleibt ein Geschenk, das jeder Mensch täglich empfängt. Die meistens Menschen sagen wahrscheinlich nie „Danke“ dafür. Und die meisten Christen vermutlich nicht täglich. Dies neu zu verinnerlichen, könnte eine lohnende Aufgabe in diesen Tagen sein.
 „So Gott will und uns gnädig ist …“ Wir können in diesen Tagen lernen, solche Worte bewusster zu hören und ernster zu nehmen. Wir haben unser Leben selbst nicht in der Hand, wie wir jetzt unmissverständlich vor Augen geführt bekommen. Glücklich der Mensch, der sich mit seinem Leben in der Hand Gottes gut aufgehoben weiß.
Wir brauchen in diesen Tagen innere Geborgenheit. Das Wort „Geborgenheit“ kommt von bergen. Es meint, dass wir in eine Fluchtburg, die von Bergen umgeben und geschützt wird, in Sicherheit gebracht werden. Geborgenheit meint solche innere „Sicherheit“, die sich getragen, behütet und geschützt weiß. Schon vor längerer Zeit stellten Psychologen fest, dass sich heute immer mehr Menschen ungeborgen und „unbehaust“ fühlen. Sie haben keinen äußeren oder inneren Ort, an dem sie sich geschützt und behütet wissen. Sie fühlen sich den Angriffen von innen und außen hilflos ausgeliefert.

Wie gut sind Menschen dran, die in diesen Tagen Geborgenheit erfahren. Was für ein Privileg für Menschen, die im Glauben an Gott, den Vater unseres Herrn Jesus Christus, ihre „Fluchtburg“ gefunden haben, die ihnen diese Geborgenheit gibt. Denn aus dieser Geborgenheit in Gott wächst Gelassenheit (nicht Leichtsinnigkeit!).
Wer sich selbst geborgen weiß und dadurch gelassen wird, erkennt auch die Verantwortung für das Leben seiner „Nächsten“ im biblischen Sinne. Also nicht nur Verantwortung für die ihm Nahestehenden und Verwandten, sondern Verantwortung für jeden Menschen aus seinem Umfeld, der Hilfe benötig.

Die modernen Kommunikationsmittel – von mir in der Vergangenheit des Öfteren als „Fluch“ empfunden – erweisen sich in diesen Tagen und Wochen als purer Segen und gleichzeitig als Hilfsmittel zur praktischen und konkreten „Nächstenliebe“: Keiner muss allein bleiben. Wir können in gewisser Weise trotzdem „verreisen“, wenn auch nur in Gedanken. Wir dürfen uns innerlich auf den Weg machen. Wir dürfen Menschen bewusster in den Blick nehmen, miteinander kommunizieren, uns gegenseitig ermutigen und wenn nötig trösten – trotz der zu unser aller Schutz verordneten äußeren Distanz.
„Die Wege zu anderen Menschen führen über Stufen, die wir in uns selbst gehen. Absteigend, mühsam zuweilen, aber sie führen zum Herzen“ (Jörg Zink). Gott segne jeden, der seinem Blick in diesen Tagen einen größeren Radius verleiht und in diesem Sinne „unterwegs“ ist. Vergessen wir es nicht: Wir werden auch gehalten durch die, die wir halten.

Bleibt geborgen und gesund.
Johannes Rosemann